Anwendbarkeit der EuGVVO auf Schiffsklassifikations- und Schiffszertifizierungstätigkeiten

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In der Rechtssache Rina SpA/Ente Registro Italiano Navale (C-641/18) ging es um die Frage, ob die Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (kurz: EuGVVO) anwendbar ist, wenn die Schadenersatzklage auf der Schiffsklassifikationstätigkeit und Schiffszertifizierungstätigkeit einer juristischen Person beruht, die diese Tätigkeit im Interesse und im Auftrag eines Drittstaats ausübt.

Im Jahr 2006 ging das Schiff Al Salam Boccaccio98 im Roten Meer unter. Das Schiff fuhr unter der Flagge der Republik Panama. Die Familienangehörigen der Opfer sowie die überlebenden Passagiere des besagten Schiffs erhoben beim Gericht von Genua (Italien) gegen die Rina SpA (mit Sitz in Italien) und die Ente Registro Italiano Navale (im Folgenden «Rina-Gesellschaften») eine Schadenersatzklage. Nach Ansicht der Kläger ist das italienische Gericht zuständig, da der Schiffsbruch auf die Schiffklassifikations- und Schiffzertifizierungstätigkeit zurückzuführen ist, und diese Tätigkeit von den in Italien ansässigen Rina-Gesellschaften durchgeführt wurde. Die Beklagten beriefen sich dagegen auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatsimmunität und erhoben den Einwand der Unzuständigkeit des italienischen Gerichts, da sie die Schiffsklassifikations- und Schiffszertifizierungstätigkeit im Auftrag der Republik Panama, d.h. in deren Namen und Interesse, durchführten. Diese Tätigkeit war daher ihrer Ansicht nach Ausdruck der hoheitlichen Befugnisse der Republik Panama.

Das italienische Gericht setzte das Verfahren aus und wandte sich mittels Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof. Es möchte wissen, ob die EuGVVO auf Schadenersatzklagen gegen eine juristische Person anwendbar ist, die Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten für Rechnung und im Interesse eines Drittstaates durchführte. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Tätigkeit unter den Begriff «Zivil- und Handelssachen» i.S.d. EuGVVO fällt und welche allfällige Auswirkung der Grundsatz der Staatsimmunität auf die Gerichtsbarkeit hat bzw. hätte.

Gem. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO a.F. ist die EuGVVO auf «Zivil- und Handelssachen» anwendbar, jedoch nicht auf Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten. Der Gerichtshof stellte zuerst fest, dass der Begriff «Zivil- und Handelssachen» autonom und weit auszulegen ist. Danach verwies er auf seine ständige Rechtsprechung (z.B. C-303/13; C-645/11; C 154/11 und C-49/129), wonach zwischen acta iure gestionis und acta iure imperii zu unterscheiden ist. Demnach umfasst der Begriff «Zivil- und Handelssachen» tatsächlich nur die Klagen, die auf Handlungen einer juristischen Person beruhen, die sie nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse (iure gestionis) vornimmt. Diejenigen Handlungen einer juristischen Person, welche als in der Ausübung hoheitlicher Befugnisse (acta iure imperii) bewertet werden können, fallen hingegen nicht unter den Begriff «Zivil- und Handelssachen» und sind damit nicht vom Anwendungsbereich der EuGVVO erfasst.

Der Gerichtshof qualifizierte die Tätigkeit der Rina-Gesellschaften weder als acta iure gestionis noch als acta iure imperii, weil diese seiner Ansicht nach Sache des vorlegenden Gerichts und nicht des Gerichtshofs ist. Allerdings betonte er, dass es nicht genüge, dass die juristische Person diese Tätigkeit im Auftrag eines Staates ausübt oder diese in dessen Namen und Interesse vornimmt, um als acta iure imperii qualifiziert werden zu können. Dazu genüge es auch nicht, dass die Tätigkeit einem öffentlichen Zweck diene.

Insbesondere in Bezug auf die Schiffsklassifikations- und Schiffszertifizierungstätigkeit erklärte der Gerichtshof, dass die von den Rina-Gesellschaften durchgeführten Tätigkeiten ausschliesslich darin bestünden, die Erfüllung der vorgeschriebenen Voraussetzungen für das Schiff zu überprüfen und die entsprechenden Zeugnisse auszustellen. Die anwendbaren Voraussetzungen würden dabei von den Behörden der Republik Panama und nicht von den Rina-Gesellschaften festgelegt. Die Rina-Gesellschaften verfügten deshalb über keinen Ermessenspielraum. In der Tat sind auch die von den Rina-Gesellschaften erteilten Sanktionen – z.B. Entzug des Zeugnisses – gesetzlich vorgeschrieben.

Unter Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung kam der EuGH zum Schluss, dass die von den Rina-Gesellschaften durchgeführten Schiffsklassifikations- und Schiffszertifizierungstätigkeiten deshalb vom Begriff «Zivil- und Handelssachen» umfasst sind.

Der Einwand der Staatsimmunität bleibt demgegenüber weiterhin offen, selbst wenn die Schiffsklassifikations- und Schiffszertifizierungstätigkeiten der Rina-Gesellschaften vom Begriff «Zivil- und Handelssachen» umfassen werden. Deshalb prüfte der Gerichtshof auch die Auswirkung des Staatsimmunitätsgrundsatzes auf die Gerichtsbarkeit nach EuGVVO. In der Tat verbietet der Staatsimmunitätsgrundsatz die Unterwerfung eines Staates unter die Gerichtsbarkeit eines anderen Staates. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht absolut. Er kommt lediglich zur Anwendung, wenn die Rechtsstreitigkeit acta iure imperii betrifft. Der EuGH konstatierte daher in casu, dass die Staatsimmunität der Anwendbarkeit der EUGVVO nicht entgegenstehe, sofern die Prüfung des vorlegenden Gerichts ergibt, dass keine acta iure imperii vorliegen.

Fazit

Die Rechtssache Rina SpA/Ente Registro Italiano Navale (C-641/ 18) gab dem Gerichtshof Gelegenheit zu grundlegenden Überlegungen, die auch auf andere Arten von Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeit angewendet werden und ist deshalb von grundlegender Bedeutung.
Nachdem der Entscheid zur vormaligen Fassung des Art. 1 Abs. 1 EuGVVO erging, welche dem Art. 1 Abs. 1 LugÜ entspricht, kommt ihm auch für die Schweiz Bedeutung zu.

Die geltende Fassung des Art. 1 Abs. 1 EuGVVO bringt demgegenüber klar zum Ausdruck, dass die Verordnung nicht «für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii)» gilt. Insofern konkretisiert das Urteil auch die Neufassung des sachlichen Anwendungsbereichs der EuGVVO.

Autorin: Elisa Castelnuovo 
Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.