Sowohl das schweizerische Bundesgericht (5A_1013/2018) als auch die Fünfte Kammer des Europäischen Gerichtshofs (C-512/17) haben sich jüngst mit der Bestimmung des Aufenthaltsorts eines Minderjährigen befasst, dessen unverheiratete Eltern das Sorgerecht im Zeitpunkt des Urteils gemeinsam ausübten und von denen ein Elternteil die Bewilligung des Wegzugs mit dem betroffenen Kind aus dem gemeinsamen Wohnsitzstaat in sein Herkunftsland beanspruchte. Im Wesentlichen beschäftigen sich beide Urteile mit der Legitimierung der Ausreise eines Minderjährigen. Anzumerken bleibt freilich, dass sowohl die Ausgangslage als auch die zur Bestimmung des Aufenthaltsorts heranzuziehenden Rechtsnormen in beiden Fällen naturgemäss unterschiedlich waren.
Im Schweizer Fall entschied das Bundesgericht zugunsten der Verlegung des Aufenthaltsortes eines zwölfjährigen Jungen von Zürich nach Illinois, USA, indem es wie folgt argumentierte: Sofern bisher beide Elternteile als Hauptbezugspersonen anzusehen seien, müsse im Wesentlichen anhand von Kriterien, wie sie auch für die Obhutszuteilung gelten würden, über die Frage der Verlegung des Aufenthaltsorts entschieden werden. Da sich in casu Kriterien wie Lebensqualität und Sprachkenntnisse des Kindes neutral, d.h. für keinen der beiden Aufenthaltsorte eindeutig aussprachen, stellte das Bundesgericht in seiner Beurteilung auf die konkrete Eltern-Kind-Bindung und die elterliche Bildungstoleranz sowie auf die Wünsche des Kindes ab, welchen aufgrund seines fortgeschrittenen Alters ein erhebliches Gewicht zukommen müsse. Das Kind äusserte im konkreten Fall nämlich beständig den Willen, den Vater in die USA zu begleiten. So sprach sich denn auch das vorhandene Gutachten hinsichtlich der Bindungstoleranz zum anderen Elternteil und der Bindungsfähigkeit zum Kind zugunsten des Vaters aus, weshalb die Gutachter eine bessere Prognose der Entwicklung des Kindes bei einer Betreuung durch den Vater prognostizierten und gestützt auf diese Überlegungen die Bewilligungserteilung für einen Wegzug empfahlen. Von einem solchen (eindeutigen) Gutachten, so das Bundesgericht, dürfe von den Gerichten nur aus triftigen Gründen abgewichen werden, weshalb es die Äusserungen des Obergerichts für ein Abweichen vom Gutachten, als unzulänglich erachtete und dessen Bewilligungsverweigerung aufhob.
Im europäischen Fall befasste sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren, das auf polnische Vorlage hin eingeleitet wurde, mit der Bestimmung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ in Art. 8 Abs. 1 der VO Nr. 2201/2003, welcher die internationale Zuständigkeit der Gerichte in Angelegenheiten betreffend die elterliche Verantwortung regelt. Diese Bestimmung statuiert, dass sich die internationale Zuständigkeit der Gerichte für Entscheidungen, welche die elterliche Verantwortung betreffen, nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung zu richten hat. Diskutiert wurden von den beiden vorinstanzlichen Gerichten zwei mögliche Interpretationsansätze: Das erstinstanzliche polnische Gericht ging von einer physisch-geographischen Interpretation aus und lokalisierte den gewöhnlichen Aufenthalt des 18 Monate alten Säuglings in Brüssel, wo sowohl die Mutter als auch der Vater lebten; deswegen verneinte es eine internationale Zuständigkeit. Demgegenüber wählte das Beschwerdegericht bei der Begriffsbestimmung einen sozial-integrativen Ansatz, nach dem es für die Festlegung des Aufenthalts auf die stärkere soziale Bindung zur Mutter, ihrer Familie in Polen und damit zur polnischen Sprache und Kultur des Kindes als ausschlaggebend erachtete; dies führte zur Bejahung der internationalen Zuständigkeit.
Der EuGH nahm dazu wie folgt Stellung: Als autonomer Begriff sei der gewöhnliche Aufenthalt anhand des Kontexts der Bestimmungen, in denen er erwähnt wird und der Ziele der VO auszulegen. In casu seien die Zuständigkeitsvorschriften nach dem Kriterium des Wohls des Kindes und der räumlichen Nähe ausgestaltet. Der Aufenthalt müsse anhand aller Umstände des Einzelfalls ermittelt werden. Neben der körperlichen Anwesenheit in einem Mitgliedstaat seien auch andere Faktoren heranzuziehen, die zeigen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende Anwesenheit handle, sondern dass der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld sei. Dem Urteil ist ferner zu entnehmen, dass unter gewöhnlichem Aufenthalt des Minderjährigen der Ort seines tatsächlichen Lebensmittelpunktes zu verstehen ist. Das angerufene Gericht habe dementsprechend zu eruieren, wo sich dieser Lebensmittelpunkt zum Zeitpunkt der Antragsstellung betreffend die elterliche Verantwortung für das Kind befunden habe. Dabei betont der EuGH, dass bei einem Kind, wenn es sich im Schulalter befindet und umso mehr, wenn es sich um einen Säugling handelt, zwar den Lebensumständen der Bezugsperson oder -personen, bei denen es lebt, für die Bestimmung des Ortes des Lebensmittelpunkts eine besondere Bedeutung zukäme. Zudem sei das massgebliche familiäre Umfeld bei getrenntlebenden Eltern zu einem Grossteil durch jenen Elternteil geprägt, bei dem das Kind im Alltag lebe. Andererseits dürfe nicht übersehen werden, dass der andere Elternteil ebenfalls zu diesem Umfeld gehöre, sofern das Kind noch regelmässig zu ihm Kontakt hat. Im Übrigen könne man für die Auslegung des Begriffs des «gewöhnlichen Aufenthalts» des Kindes den kulturellen Bindungen oder seiner Staatsangehörigkeit nicht auf Kosten objektiver geografischer Überlegungen eine vorrangige Bedeutung beimessen, ohne die Absicht des Unionsgesetzgebers, das Kindeswohl durch die Entscheidungszuständigkeit in Angelegenheiten betreffend die elterliche Verantwortung durch Gerichte zu gewährleisten, die sich in dessen faktischen Nähe befinden, zu missachten.
Fazit
Obwohl die Rechtsprechungstendenz der Höchstgerichte in den verglichenen Urteilen auf einen ersten Blick verblüffend auseinanderzulaufen scheint, lässt sich bei genauerem Hinsehen eine gewisse Rechtfertigung dafür erkennen. Es mag zwar zunächst verwundern, dass einem Zwölfjährigen, der sozial erheblich stärker integriert ist, als ein 18 Monate altes Baby, eine Verlegung seines Aufenthalts in einen anderen Kontinent bewilligt wird, während dem Kleinkind die Ausreise in einen nahe gelegenen europäischen Staat verweigert wird. Es ist allerdings auch hervorzuheben, dass der schweizerische Art. 301a ZGB, welcher das Fundament der bundesgerichtlichen Entscheidung ist, die Möglichkeit einer Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes ins Ausland vorsieht, sofern die Kindesschutzbehörde und das Gericht zustimmen. Das Bundesgericht konnte in Anbetracht dieser Bestimmung und seiner Anwendung nur schwer vom Vorliegen eines sich für die Verlegung des Aufenthalts aussprechenden Gutachten, der Zustimmung der KESB und nicht zuletzt vom Kindeswillen abweichen – eine solche Zurückhaltung des Gerichts bei dieser Ermessensfrage ist denn auch nicht zu kritisieren.
Demgegenüber lag der Entscheidung des EuGH eine Zuständigkeitsnorm zugrunde, bei deren Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts auf die aktuelle Situation abzustellen war. Die Aufgabe des beurteilenden Gerichts und der Zeitpunkt der Bestimmung war insofern anders als im Schweizer Fall. Wenn auch bei dem betroffenen Kleinkind insbesondere aufgrund seiner Erziehung und seiner noch vagen Wahrnehmung seines geografischen Umfelds die Umstände eher für ein Aufwachsen in Polen sprachen, erschiene die geschilderte Ausdehnung des Wortlauts «gewöhnlicher Aufenthalt» nach einem sozial-integrativen Ansatz, wie er vom polnischen Beschwerdegericht vertreten wurde, wohl etwas gekünstelt und der gesetzgeberischen Auffassung des Kindeswohls widersprechend. Ferner war es wohl auch die gerichtliche Absicht, die Beziehung zum jeweils anderen Elternteil nicht schon im Säuglingsalter zu ersticken.
Autor: Michele Volpe Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung des Autors wieder.