LugÜ-Verbrauchergerichtsstand trotz Umzugs nach Vertragsschluss?

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In der vorliegenden Rechtssache erhält der EuGH Gelegenheit zur Klärung der Frage, ob der ausschliessliche Verbrauchergerichtsstand auch dann eröffnet ist, wenn der Verbraucher nach Vertragsschluss seinen Wohnort wechselt oder ob dann der Gerichtsstand des Erfüllungsorts massgeblich ist. 

Anlass dafür gibt eine Leistungsklage auf Rückzahlung des Schlusssaldos aus Kontoüberziehung einer in Deutschland ansässigen Grossbank gegen einen Kontoinhaber, der seinen Wohnsitz nach Kontoeröffnung von Deutschland in die Schweiz verlegt hatte. Die zunächst mit dem Fall beschäftigen deutschen Gerichte wiesen die Klage aufgrund fehlender Zuständigkeit ab, wobei das zuletzt angerufene Landgericht Dresden die Revision zum BGH zuliess. 

Dieser qualifizierte (mit Beschluss vom 12.5.2020 - XI ZR 371/18 2015) zunächst die Darlehensgewährung der klagenden Bank als Dienstleistung i.S.v. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich LugÜ. Die Hingabe des Darlehens gelte als vertragscharakteristische Leistung, während die Verpflichtung zur Rückzahlung des Darlehensnehmers als blosse Folge der Leistung des Darlehensgebers zu betrachten sei. Folglich gelte als Erfüllungsgerichtsstand der Ort, an dem der Kläger die Kontoüberziehung geschuldet habe. Der BGH prüfte jedoch auch das Vorliegen eines Verbrauchergerichtsstands i.S.v. Art. 15 LugÜ, der die Zuständigkeit der Gerichte am Erfüllungsort in Dresden ausschliessen würde. 

Die beiden ersten in Art. 15 I LugÜ genannten Voraussetzungen, in concreto die Verbrauchereigenschaft eines Vertragspartners sowie der tatsächliche Vertragsschluss zwischen diesem Verbraucher und einem beruflich oder gewerblich Handelnden, konnten vom BGH eindeutig bejaht werden. Anlass zu einer eingehenderen Prüfung bot hingegen die dritte und letzte Voraussetzung der genannten Bestimmung: Aufgrund des streitgegenständlichen Darlehensvertrags, welcher nicht von Art. 15 I Buchst. a und b LugÜ erfasst wird, komme nur eine Prüfung von Art. 15 I Buchst. c LugÜ in Betracht. Dieser setzt voraus, dass der andere Vertragspartner in dem durch das Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche Tätigkeit auf diesen Staat ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob zur Bestimmung des für das Erfordernis des Ausübens einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit relevanten Zeitpunkts auf den Zeitpunkt der Klageerhebung oder auf jenen des Vertragsschlusses abzustellen ist. 

Der BGH stellt sich auf den Standpunkt, dass der Verbrauchergerichtsstand nach Art. 15 LugÜ im Ausgangsfall nicht eröffnet sei, zumal Art. 15 I und II LugÜ eine Abweichung von der allgemeinen Zuständigkeitsregel nach Art. 2 I LugÜ sowie von den besonderen Zuständigkeiten nach Art. 5 Nr. 1 LugÜ statuiert und sich daher eine enge Auslegung des Verbrauchergerichtsstands aufdränge. Zudem gelte der Verbraucherschutz nicht absolut.

Der BGH legte trotz seiner klaren Positionierung – die richtige Anwendung von Art. 15 I Buchst. c LugÜ sei «nicht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum» bliebe – folgende Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor: Primär wollte der BGH wissen, ob Art. 15 I Buchst. c LugÜ dahingehend auszulegen sei, dass das Erfordernis des Ausübens einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit in dem durch das Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, bereits bei Vertragsanbahnung und Vertragsschluss eine grenzüberschreitende Tätigkeit des Vertragspartners des Verbrauchers voraussetzt oder ob die Bestimmung auch anwendbar ist, wenn sich ein Auslandsbezug des Rechtsverhältnisses erst nachträglich durch Umzug des Verbrauchers ergibt.

Sofern keine grenzüberschreitende Betätigung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses erforderlich sei und folglich der Anwendungsbereich der Art. 15 ff. LugÜ auch die Konstellation umfasst, in welcher Verbraucher und Unternehmen bei Vertragsschluss ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedstaat haben, stellte der BGH die weitere Vorlagefrage, ob nach dem Umzug des Verbrauchers aus dem gemeinsamen Wohnsitzmitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat die ausschliessliche Zuständigkeit der Gerichte am neuen Verbraucherwohnsitz voraussetzungslos begründet wird oder ob zusätzlich erforderlich ist, dass der Unternehmer in diesem Staat eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder seine Tätigkeit auf diesen Staat ausrichtet.

Der Senat spricht sich im Rahmen dieser zweiten Frage für eine solche zusätzliche Voraussetzung aus zur Sicherstellung der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands; ansonsten könnte der Verbraucher durch einen Wohnsitzwechsel einen ausschliesslichen Gerichtsstand eigenmächtig steuern bzw. herbeiführen. Gerade durch das Erfordernis, dass der Unternehmer selbst durch die Ausübung seiner Tätigkeit in oder deren Ausrichtung auf den Wohnsitzstaat des Verbrauchers einen hinreichenden Zusammenhang zu diesem Staat hergestellt hat, werde ein Ausgleich zwischen dem Verbraucherschutz und dem Vorhersehbarkeitsinteresse des Unternehmers geschaffen.
Der EuGH hat die Vorlagefragen mit Urteil vom 30.9.2021 in der Rs. C-296/20 geklärt. Der Verbrauchergerichtsstand des Art. 15 I Buchst. c LugÜ sei auch eröffnet, wenn der Verbraucher im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in demselben Staat seinen Wohnsitz hatte wie der gewerblich handelnde Vertragspartner und sich ein internationaler Bezug erst durch eine nachträgliche Wohnsitzverlegung ergibt. Der EuGH verweist zur Begründung auf das Urteil Pammer und Hotel Alpenhof der Rs. C-585/08 und Rs. C-144/09, welches die Auslegung der Wendung des «Ausrichtens» in Bezug auf die Präsentation einer Tätigkeit auf einer Website zum Gegenstand hatte. Aus diesem lasse sich nicht ableiten, dass die Anwendung des Art. 15 I Buchst. c LugÜ erfordere, dass der Verbraucher im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in einem anderen Staat als der Vertragspartner ansässig ist. Auch im Wege einer systematischen Auslegung ergebe sich für keinen der von Art. 15 I LugÜ begründeten Gerichtsstände das Erfordernis eines Auslandsbezugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Dasselbe gelte auch mit Blick auf die Möglichkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung i.S.v. Art. 17 III LugÜ. Schliesslich sei in Bezug auf das vom LugÜ verfolgte Ziel zu bedenken, dass das Übereinkommen nicht die Regelung der Systematik des Vertrags bezwecke, sondern die Schaffung einheitlicher Regelungen für die internationale gerichtliche Zuständigkeit. Damit sei auch eine vom Senat postulierte zusätzliche Voraussetzung zur Sicherstellung der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands nicht mit dem Zweck des Übereinkommens vereinbar. Mithin begründe auch der allgemeine Gerichtsstand des Art. 2 I LugÜ die Regel, wonach die Gerichte am Wohnsitz des Verbrauchers ungeachtet eines allfälligen späteren Wohnsitzwechsels zuständig sind.

Fazit

Der deutsche BGH hat sich im Ausgangsfall mit seinem Vorlagebeschluss klar zu Gunsten des Erfüllungsgerichtsstands positioniert, in wesentlichen europarechtlichen Punkten aber den EuGH um Vorabentscheidung gebeten. Entgegen der Ansicht des BGH nutzte der EuGH die Vorlage zur Stärkung des Verbraucherschutzes. Zur Anwendung des Verbrauchergerichtsstands des Art. 15 Buchst. c LugÜ sei einzig entscheidend, dass der gewerblich handelnde Vertragspartner seine Tätigkeit im Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Wohnsitzstaat des Verbrauchers ausübe. Eine spätere Wohnsitzverlegung des Verbrauchers könne die Anwendbarkeit dieser Bestimmung nicht verhindern.

Autorin: Sarah Meyer
Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.