Die Richtlinie 2001/18/EG bestimmt ein einheitliches Vorgehen bei der Prüfung der Umweltverträglichkeit der Freisetzung von genetisch veränderten Organismen (nachfolgend: GVO). Bei der Mutagenese wird die spontane Mutationsrate des Erbguts erhöht. Diese genetischen Veränderungen können durch Züchtungstechniken angetrieben werden, indem entweder einzelne Pflanzenzellen im Labor (In-vitro-Verfahren) oder ganze Pflanzen (In-vivo-Verfahren) behandelt werden. Grundsätzlich fallen so erzeugte Pflanzen unter die GVO-Richtlinie, was beispielswese zu strengen Prüfungsvoraussetzungen vor der Freisetzung und einer Kennzeichnungspflicht der entsprechenden Pflanzen führt. Die Richtlinie 2001/18/EG enthält in Art. 3 I i.V.m. Anh. 1 B Nr. 1 RL 2001/18 allerdings eine Bereichsausnahme, bei deren Anwendung die obengenannten Voraussetzungen und Pflichten entfallen.
Der EuGH hielt im Urteil Rs. C-528/16 vom 25. Juli 2018 fest, dass nur solche Verfahren der Mutagenese für die Bereichsausnahme der Richtlinie 2001/18/EG in Frage kämen, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt würden und seit Langem als sicher gälten. Diese Voraussetzungen erfüllten insbesondere gewisse Verfahren unter Anwendung der In-vivo-Zufallsmutagenese.
Der französische Staatsrat folgerte e contrario aus dem obigen Entscheid des EuGH, dass Methoden, die nach Erlass der Richtlinie entstanden sind oder sich erst dann hauptsächlich entwickelt haben, insbesondere gewisse In-vitro-Verfahren, nicht unter „seit Langem als sicher“ zu subsumieren seien und so in den Anwendungsbereich der Richtlinie beziehungsweise nicht in den Anwendungsbereich der Ausnahme nach Art. 3 I i.V.m. Anh. 1 B Nr. 1 RL 2001/18 fielen. Darauf schloss die Regierung Frankreichs in ihrem Entwurf zum Dekret der Umsetzung der Richtlinie 2001/18/EG die In-vitro-Verfahren von der Ausnahmeregelung eben dieser Richtlinie aus. Dies allerdings zum Unmut der Europäischen Kommission, die festhielt, dass es mit der wissenschaftlichen Entwicklung nicht vereinbar sei, zwischen den In-vivo- und In-vitro-Verfahren zu unterscheiden.
Vor diesem Hintergrund wandte sich der Conseil d’État mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Insbesondere gehe es um die Frage, ob Art. 3 I i.V.m. Anh. 1 B Nr. 1 RL 2001/18 so auszulegen sei, dass bei Vorliegen zweier gleichartiger Verfahren, die sich einzig darin unterscheiden, dass einmal In-vivo-Kulturen und einmal In-vitro Kulturen verwendet werden, Letzteres im Unterschied zu Ersterem nicht unter die Ausnahme fallen solle. Zu klären sei also, ob Verfahren oder Methoden der Mutagenese, die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruhen wie ein Verfahren der Mutagenese, das herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, gleich zu behandeln sei (z.B. Rn. 21 Urteil vom 07.02.23 – C-688/21).
Tenor des Gerichts (Urteil vom 07.02.23 – C-688/21)
Der EuGH hält es für evident, dass die Bereichsausnahme nicht allgemein bei Verfahren greife, nur weil sie auf gleichen Modalitäten beruhen, wie Verfahren, die herkömmlich sind und seit Langem als sicher gelten, also unter die Ausnahmeregelung zu subsumieren sind (Rn. 51). Die Antworten auf obige Fragen könnten zudem nicht aus dem Wortlaut von Art. 3 I i.V.m. Anh. 1 B Nr. 1 RL 2001/18 abgeleitet werden (Rn. 42). Viel eher sei auf den in Art. 1 RL 2001/18 festgehaltenen Sinn und Zweck der Bestimmung abzustellen (Rn. 44). Demnach sei aus Gründen der menschlichen Gesundheit und Sicherheit der Umwelt relevant, ob die Unterschiede zwischen dem unter die Ausnahme fallenden Verfahren und dem zweiten Verfahren geeignet seien, die Art oder das Tempo der Veränderungen des genetischen Materials des betreffenden Organismus zu beeinflussen (Rn. 52 und 56). Ist dies der Fall, könne die Ausnahme nicht ausgeweitet werden, denn es sei gerade der Sinn und Zweck der in der Richtlinie vorgesehenen Sicherheitsprüfungen, solche genetischen Veränderungen vorab zu überprüfen, da mit diesen GVO meist irreversible Effekte einhergehen (Rn. 54). Wenn sich diese Veränderungen aber in Art und Tempo von jenen des ursprünglichen Verfahrens unterschieden, könnten diese eben gerade nicht im Voraus überprüft werden, was nicht im Sinne des Unionsgesetzgebers sei und dem Vorsorgeprinzip nach Art. 191 AEUV widerspreche (Rn. 51).
Indem Verfahren, die auf gleichen Modalitäten beruhen, wie solche, die unter die Ausnahme fallen und ihrerseits aber gerade nicht zu anderweitigen Veränderungen des genetischen Materials des betreffenden Organismus führen, ebenfalls von der Bereichsausnahme zu erfassen sind, soll der Wirksamkeit der Ausnahme allerdings Rechnung getragen werden (Rn. 55).
Hinzuzufügen ist, dass der EuGH sogar feststellt, dass an sich „herkömmliche“ Verfahren nicht per se immer unter die Ausnahme fallen sollten, sondern diese auch unter dem Gesichtspunkt der Schutzgüter zu betrachten seien, insbesondere, wenn sie „in neuen Zusammenhängen“ aufträten. Außerdem lehnt der Gerichtshof jegliche Umgehungstaktiken der Sicherheitsprüfungen ab und kritisiert solche „unter dem Denkmantel der Anwendung eines etablierten Verfahrens geführten Mutagenesen“ stark. (z.G. Rn. 53)
Fazit
Der EuGH musste nunmehr konkret feststellen, ob allein der Fakt, dass sich ein Verfahren oder eine Methode auf eine In-vitro-Kultur stützt, ansonsten aber den gleichen Modalitäten, wie eines unter die Ausnahme fallende In-vivo-Verfahren, folgt, geeignet ist, zu Veränderungen des genetischen Materials des betreffenden Organismus zu führen und somit seinerseits von der Ausnahme ausgeschlossen zu werden. Laut EuGH reiche die Wirkung, welche eine In-vitro-Kultur im Vergleich zu einer In-vivo-Kultur bei einem ansonsten unter gleichen Modalitäten durchgeführten Verfahren hat, nicht aus, um Ersteres von der Ausnahme auszuschliessen, wenn Letzteres unter die Ausnahme falle (Rn. 57 f.).
Der EuGH bekräftigt mit diesem Entscheid seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 3 I RL 2001/18. Durch den Verweis auf das Vorsorgeprinzip nach Art. 191 AEUV und dessen Verknüpfung mit dem Gentechnikrecht wird indes die Möglichkeit einer Änderung des Gentechnikrechts massiv erschwert, da dessen Auslegung nun mit einem primärrechtlichen Grundsatz verbunden wird. Das Vorsorgeprinzip eignet sich zudem zur Füllung allfälliger Gesetzeslücken. Die Argumentationsweise des EuGH erhellt ferner die Tatsache, dass es bei der Auslegung der an sich sehr technischen Materie des Gentechnikrechts weniger auf Detailfragen und Einzelheiten, sondern viel mehr auf den teleologischen Kern der Gesetzgebung zur Gentechnik ankommt, nämlich den Schutz der Bevölkerung und der Umwelt.
Autorin: Nuria Chamizo Lopez Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.