Der EuGH beschäftigte sich im Urteil Rusu vom 29. Juli 2019 mit der Nichtbeförderung von Fluggästen und den daraus entstehenden Ausgleichszahlungen im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung). Die in den Rechtstreit involvierten Fluggäste hatten bei der Fluggesellschaft Blue Air zwei Flugscheine für die Beförderung von Rumänien nach England gebucht. Als Blue Air am Reisetag ein kleineres Flugzeug einsetzte, konnten die Kläger die Reise aufgrund der verringerten Kapazität nicht antreten. Die Fluggesellschaft offerierte ihnen im Anschluss an die Geschehnisse als Entschädigung zwar zuerst kostenlose Flugscheine und bei deren Ablehnung gestützt auf die Verordnung Nr. 261/2004 schliesslich Ausgleichsleistungen von 400 Euro pro Person. Die Kläger waren jedoch der Ansicht, dass der erlittene Schaden den Wert der Flugscheine übersteige und dass bei den angebotenen Ausgleichszahlungen der materielle Schaden unberücksichtigt bleibe. Letzterer sei ihnen durch die fünftägige Verspätung am Arbeits- und Wohnort London im Sinne eines Verdienstausfalls entstanden. Deshalb beantragten sie beim Amtsgericht Bacău in Rumänien, dass Blue Air ihnen neben je 1‘500 Euro als Entschädigung für den immateriellen Schaden zusätzlich je eine dreistellige Summe als Entschädigung für den materiellen Schaden, der sich aus dem Gehaltsabzug ergebe, zu zahlen habe. Das Amtsgericht Bacău verurteilte Blue Air zur Zahlung von je 400 Euro als Wiedergutmachung für den immateriellen Schaden – die übrigen Anträge wies es zurück.
Der EuGH bündelte in der Entscheidung die insgesamt neun Vorlagefragen thematisch und hielt als Erstes fest, dass ein individueller Schaden – wie der vorliegend geltend gemachte Verdienstausfall – nicht unter die pauschalen Ausgleichsleistungen nach Art. 7 Abs. 1 lit. b der Verordnung Nr. 261/2004 fällt. Ein Verdienstausfall könne aber Gegenstand des Schadenersatzanspruchs nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung sein, sofern das nationale Recht oder das Völkerrecht einen solchen Anspruch vorsieht und dieser weiter reicht als die pauschalen Ausgleichsleistungen der Fluggastrechteverordnung. Das vorlegende Gericht hat die Tatbestandsmerkmale des Schadens – in casu des Verdienstausfalls – und den Umfang des Schadensausgleichs anhand der einschlägigen Rechtsgrundlage zu bestimmen und zu beurteilen. Die Fluggastrechteverordnung sehe nämlich keinen Ausgleich für einen personalisierten Schaden vor. Gemäss EuGH kann das zuständige nationale Gericht nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Fluggastrechteverordnung zwar die nach der Verordnung gewährte Ausgleichsleistung auf den weiter gehenden Schadenersatzanspruch anrechnen. Es wird dazu aber nicht verpflichtet – ebenso wenig gibt die Verordnung Bedingungen für die Anrechnung vor.
Das ausführende Luftfahrtunternehmen sei zudem verpflichtet, die von einem Flugausfall betroffenen Fluggäste über alle in Art. 8 Abs. 1 vorgesehenen Möglichkeiten zu informieren, um ihnen eine zweckdienliche und informierte Wahl zu ermöglichen. Eine Verpflichtung der betroffenen Fluggäste zur aktiven Mitwirkung bei der Suche nach Alternativen bestehe nicht. Zur anderweitigen Beförderung zum Endziel zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Art. 8 Abs. 1 lit. b führte der EuGH aus, dass das Luftfahrunternehmen die Beweislast dafür trage.
Fazit
Während das EuGH-Urteil das Schutzniveau der Fluggäste bei der Nichtbeförderung zugleich hinsichtlich mehrerer Aspekte stärkt, wird die Auslegung der erwähnten Verordnungsbestimmungen bei den Luftfahrtunternehmen zu gewissen Verschärfungen führen – das nicht zuletzt wegen der möglichen Akkumulation von Ausgleichszahlungen und der Entschädigung für individuelle Schäden. Diese separate Betrachtung erscheint sinnvoll und erforderlich, kompensieren die Ausgleichsleistungen doch für alle Fluggäste praktisch identische Schäden, der Schadenersatzanspruch nach Art. 12 Abs. 1 der Fluggastrechteverordnung bedarf hingegen einer Einzelfalluntersuchung. Die Ausführungen des EuGH sorgen abgesehen vom Umfang und der einschlägigen rechtlichen Grundlage der Schadenersatzansprüche auch im Bereich der Informationspflicht und der Beweispflicht für Klarstellungen. So werden sich die Fluggäste bei einem allfälligen „Overbooking“ des gebuchten Fluges – vor allem im Hinblick auf einen daraus resultierenden Verdienstausfall – im Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung mit weniger Unsicherheiten konfrontiert sehen.
Autorin: Lara Blumer
Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.