Ordre public Widrigkeit von ermessenbasierten Common Law Urteilen?

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Das Bundesgericht befasst sich in seinem Entscheid vom 22. März 2021 u.A. mit der Frage, ob die Anerkennung eines britischen Urteils ordre public-widrig ist, wenn es zu behaupteten Verfahrensfehlern gekommen ist und das Urteil inhaltlich zu grossen Teilen Ermessensentscheidungen enthält. Dem Verfahren zugrunde lag die Anerkennung eines britischen Entscheides aus 2019, der die Beschwerdeführerin zu der Begleichung einer Parteientschädigung in Millionenhöhe verpflichtete, obwohl sie selbst nicht Partei des Hauptverfahrens war.

Nachdem die zuständige Schweizer Friedensrichterin den Arrestbefehl zum Vollzug des britischen Entscheids ausgestellt hatte, ergriff die Beschwerdeführerin die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsmittel, bis sie schliesslich in letzter Instanz vor dem Bundesgericht landete. Sie machte dabei unter anderem geltend, dass der ausländische Entscheid nicht in der Schweiz anzuerkennen und zu vollstrecken sei, da er gegen den hiesigen ordre public verstosse.

Die Beschwerdeführerin stützte diese Aussage zunächst auf den Umstand, während des Verfahrens nicht darüber informiert worden zu sein, dass sie als Drittperson für eine Parteientschädigung haftbar gemacht werden kann, wenn sie den Prozess für eine der Hauptparteien finanziert. Dies sei mit den Informationspflichten des schweizerischen Verfahrensrechts unvereinbar (vgl. etwa Art. 97 ZPO).

Das Bundesgericht beurteilte diesen Umstand als nicht ordre public-widrig. Nur weil im schweizerischen Recht für die Verletzung von Informationspflichten andere Folgen vorgesehen seien als im anwendbaren common law, begründe dies noch keinen ordre public-Verstoss.

Weiter brachte die Beschwerdeführerin vor, der Entscheid des englischen Richters beruhe zur Gänze auf Ermessen. Der Richter habe zwar einzelne Kriterien für die Drittpersonenhaftung und deren Bemessung genannt, sich in seiner Entscheidbegründung aber nicht an diese gehalten, sondern allein auf die Umstände des Einzelfalles abgestellt. Dadurch sei ein bedingungsloser Haftungstitel für die Beschwerdeführerin entstanden. Der Richter habe seine Befugnis überschritten und die Beschwerdeführerin im Ergebnis willkürlich zur Parteientschädigung verpflichtet.

Dieser Ansicht ist das Bundesgericht nicht gefolgt. Es liegt in der Natur von Ermessensentscheiden, dem Richter einen (durchaus auch breiten) Argumentationsspielraum einzuräumen. Nur weil gewisse Bestimmungen des schweizerischen Rechts nicht deckungsgleich mit denen aus dem Vereinigten Königreich sind, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine ordre public-Widrigkeit vorliegt. Wäre dem so, wäre der ordre public auf alle Sachverhalte anzuwenden, in denen das Anerkennungs- und Vollzugsrecht vom zuvor auf den Entscheid anwendbaren Recht abweicht. Dem strikten Ausnahmecharakter der ordre public-Korrektur würde dies nicht entsprechen.

Zuletzt argumentierte die Beschwerdeführerin, dass es gegen den elementaren Grundsatz der rechtlichen Eigenständigkeit der Personen im schweizerischen Haftungsrechts verstosse, Drittpersonen für Schäden haftbar zu machen (vgl. Art. 106 ZPO).

Auch diese Ansicht wurde vom Bundesgericht verworfen: Zwar sieht das schweizerische Recht andere materielle Bestimmungen vor, doch eine Unvereinbarkeit mit dem ordre public-Vorbehalt ist dadurch in casu noch nicht erreicht. Es ist nämlich mit dem schweizerischen Rechtsverständnis nicht gänzlich unvereinbar, dass auch nicht selbst unmittelbar beteiligte Personen für Schäden verantwortlich gemacht werden können, für die ihr Verhalten kausal war. Da die Beschwerdeführerin für eine Hauptpartei den Prozess finanziert hat, wäre es ohne sie nicht zum Prozess und deshalb auch nicht zur Notwendigkeit einer Parteientschädigung gekommen.

Fazit

Das Bundesgericht bestätigt mit seinem Entscheid die restriktive Auslegung des ordre public. Damit wird bekräftigt, dass ausländische Entscheidungen nicht durch Art. 45 Abs. 1 i.V.m. Art. 34 f. LugÜ oder Art. 17 IPRG verworfen werden können, wenn sie lediglich materiell nicht den schweizerischen Bestimmungen entsprechen. Vielmehr müssten fundamentalste Grundsätze der schweizerischen Rechtsordnung missachtet werden.

Dies ist besonders für Entscheide aus dem Common Law-Rechtsbereich zu begrüssen. Die darin häufig enthaltenen Ermessensentscheide sind Teil der Natur der dortigen Rechtsordnung, welche sich in vielen Punkten von der schweizerischen zivilrechtlichen Tradition unterscheidet. Das allein sollte aber nicht genügen, um einen Verstoss gegen den ordre public zu bejahen, wie es treffend vom Bundesgericht festgestellt wurde.

Auch die Ausführungen des Bundesgerichts zu der Drittpersonenhaftung der Beschwerdeführerin sind im Ergebnis überzeugend.

Im selben Entscheid werden auch Ausführungen zur Anwendbarkeit des Lugano Übereinkommens auf Urteile aus dem Vereinigten Königsreich post Brexit gemacht, siehe dafür Beitrag vom 5. April 2023.

Autorin: Nina Bleiker
Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.