Ist das VVG 2022 auf Direktansprüche aus «alten» Verträgen anwendbar?

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Das Bundesgericht befasste sich in seinem Urteil 4A_189/2024 vom 27. Januar 2025 mit der grundlegenden Frage, wann das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) zeitlich zur Anwendung gelangt. Im konkreten Detail erörtert wurde die Frage, ob das mit der Teilrevision des VVG per 1. Januar 2022 eingeführte direkte Forderungsrecht des geschädigten Dritten gegenüber dem Versicherungsunternehmen auch auf Versicherungsverträge anwendbar ist, die bereits vor diesem Datum abgeschlossen wurden.  

Massgeblich zur Beantwortung dieser Frage ist zum einen Art. 60 Abs. 1bis VVG, worin das direkte Forderungsrecht des geschädigten Dritten gegenüber dem Versicherungsunternehmen überhaupt geregelt wird und zum anderen ist die in Art. 103a VVG vorgesehene Übergangsbestimmung zentral. Das Bundesgericht gelangte insofern zur Auffassung, dass das direkte Forderungsrecht für Verträge, die vor dem Stichtag des 1. Januar 2022 abgeschlossen wurden, nicht gilt. 

In Anbetracht der unterschiedlichen Auslegungselemente legte die Vorinstanz die in Art.103a VVG verankerte Übergangsbestimmung dahingehend aus, dass das direkte Forderungsrecht gemäss Art.60 Abs.1bis VVG ebenfalls vom Anwendungsbereich jener Übergangsbestimmung betroffen sei. Das qualifizierte Schweigen des Gesetzgebers liesse darauf schliessen, dass die Übergangsbestimmungen im Schlussteil (SchlT) des Zivilgesetzbuches (ZGB) – und damit konkret Art.3 SchlT ZGB, wonach auch vor Inkrafttreten begründete Rechtsverhältnisse dem neuen Recht unterstehen können – unbeachtlich blieben. Dies gründe unter anderem auf der Überlegung, dass das direkte Forderungsrecht in übergangsrechtlicher Hinsicht nicht gesondert rechtlich normiert werde. 

Dem vorliegenden Bundesgerichtsurteil liegt insbesondere hinsichtlich der Einordnung des direkten Forderungsrechts, eine eingehende Auslegung der Übergangsbestimmung gemäss Art.103a VVG zugrunde. Im Rahmen dieser Auslegung wendet das Bundesgericht den anerkannten und praxisbewährten Methodenpluralismus an und analysiert die Bestimmung sowohl nach ihrem Wortlaut als auch unter systematischen, teleologischen und historischen Gesichtspunkten. Von Bedeutung scheint hier ausserdem die bundesgerichtliche Ablehnung einer hierarchischen Festsetzung der einzelnen Auslegungselemente. 

Mit Bezug auf den konkreten Wortlaut des Art. 103a VVG, stellt die Bestimmung auf «Verträge» ab. Im Besonderen zu berücksichtigen ist der gesetzliche Verweis auf Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossen wurden. Die konkrete Formulierung bezieht sich auf eine abschliessende übergangsrechtliche Regelung für sämtliche Änderungen, die am 19. Juni 2020 erlassen wurden, womit die allgemeinen Bestimmungen des SchlT ZGB für einzelne Rechtsverhältnisse wie das direkte Forderungsrecht i.S.v. Art. 60 Abs. 1bis VVG keine rechtliche Tragweite entfalten sollen. 

Tragend im systematischen Gefüge ist der Umstand, dass das Versicherungsvertragsgesetz neben dem herkömmlichen Versicherungsvertrag i.e.S. – d.h. einer Vereinbarung zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherungsunternehmen – auch Rechtsverhältnisse mit Dritten regelt, worunter geradezu das direkte Forderungsrecht gemäss Art. 60 Abs. 1bis VVG fällt. Entsprechend ist auch der Vertragsbegriff nach Art. 103a VVG in einem weiteren Sinn zu verstehen, wobei die spezialgesetzlichen Übergangsbestimmungen des VVG auf sämtliche Rechtsverhältnisse anwendbar sind. 

In teleologischer Hinsicht fällt der ursprüngliche Zweck des direkten Forderungsrechts ins Gewicht, der primär in der Ausweitung der rechtlichen Stellung des Versicherungsnehmers besteht. Unhaltbar gemäss bundesgerichtlicher Begründung ist die Argumentation der Klägerin, den Zweck des direkten Forderungsrechts mit einer übergangsrechtlichen Geltungspflicht zu verbinden. Dies sei besonders deshalb nicht überzeugend, weil in Art.103a lit.a und lit.b VVG bereits Bestimmungen des neuen Rechts aufgeführt werden, die für Verträge mit Abschluss vor dem Inkrafttreten des 19.Juni 2020, gelten. Nicht nachvollziehbar sei dann, warum – gemäss Begründung der Klägerin – der Gesetzgeber es beabsichtigte, das direkte Forderungsrecht nach Art.60 Abs.1bis VVG in rückwirkender Weise zur Geltung zu bringen. In Berücksichtigung des Übergangsrechts sei zudem gänzlich von einer strikten Trennung zwischen unmittelbar versicherungsvertraglichen Bestimmungen sowie jenen mit Bezügen zu Drittparteien abzusehen. 

Historisch betrachtet sahen die ursprünglich im Entwurf einer gescheiterten Totalrevision des VVG im Jahr 2011 angedachten Übergangsbestimmungen eine rückwirkende Anwendbarkeit jener Bestimmungen auf das direkte Forderungsrecht ausdrücklich vor. Im direkten Gegenzug dazu sah der Vorentwurf der Teilrevision des VVG bewusst von einer solchen Übergangsbestimmung ab. Der Botschaft vom 28.Juni 2017 zur Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes sei dabei zu entnehmen, dass in Anbetracht laufender Versicherungsverträge und des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes, bloss die Form- und Kündigungsvorschriften ab Inkrafttreten des neuen VVG gelten sollen. 

Fazit

Insgesamt gelangt das Bundesgericht zum Ergebnis, dass auf den im Jahr 2014 unterzeichneten Versicherungsvertrag der Klägerin nur jene Bestimmungen des neuen Rechts Anwendung finden, die in Art.103a VVG explizit genannt werden. Die Rückwirkung des direkten Forderungsrechts nach Art.60 Abs.1bis VVG auf den vor dem 19.Juni 2020 geschlossenen Versicherungsvertrag sei damit ausgeschlossen. 

Überzeugender wäre es gewesen, mit der von Specogna im von Grolimund/Loacker/Schnyder herausgegebenen Basler Kommentar zum VVG vertretenen Auffassung davon auszugehen, dass Art.103a VVG – unter Beachtung der Grundregel der Nichtrückwirkung – auch auf Altfälle anwendbar sei, um dem vom Gesetzgeber vorgesehenen verbesserten Schutz der Vertragsparteien für altrechtliche Verträge Rechnung zu tragen (Art. 103a N 23 f.). 

Autorin: Laura Kesten
Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.