Die Anwaltskammer des Kantonsgerichts St. Gallen hat in ihrem Entscheid vom 19. September 2019 (AW.2019.24) das Verhalten eines Anwalts als Verletzung seiner Berufspflichten i.S.v. Art. 12 lit. a BGFA befunden, weil dieser über mehrere Monate weder per Telefon noch Email erreichbar war.
Ausgangspunkt des gegenständlichen Disziplinarverfahrens bildet die Anzeige gegen Rechtsanwalt X, welcher nach Ansicht von Y des Kreisgerichts Z aufgrund fehlender Erreichbarkeit – wohlgemerkt von Anfang Januar bis Ende März 2019 – gegen seine anwaltlichen Sorgfaltspflichten gemäss Art. 12 lit. a BGFA verstossen habe. Diese Generalklausel zielt darauf ab, das rechtssuchende Publikum zu schützen sowie den geordneten Gang der Rechtspflege zu gewährleisten. Die besagten Sorgfaltspflichten gelten m.a.W. nicht nur im Verhältnis zwischen Anwalt und Klient, sondern auch zwischen Anwalt und Behörden.
Dem Vorwurf mangelnder Erreichbarkeit hält X entgegen, dass er sowohl das Kreisgericht Z sowie zuvor auch die Staatsanwaltschaft mehrfach aufgefordert habe, sämtliche Mitteilungen an ihn auf elektronischem Weg zuzustellen. Seiner Auffassung nach könnten Verfahrensbeteiligte für Mitteilungen zu ihren Handen von den Behörden die Benutzung einer elektronischen Zustellungsplattform fordern. Diese Ansicht stützt X insbesondere auf Art. 9 Abs. 3 VeÜ-ZSSV, wonach «[e]ine Partei […] dieser Behörde mitteilen [kann], dass ihr in einem oder in allen Verfahren die Mitteilungen auf elektornischem Weg zu eröffnen sind.»
Die Anwaltskammer vertritt in vorliegender Angelegenheit – entgegen der Auffassung des X – die Ansicht, dass weder der StPO, der ZPO noch der VeÜ-ZSSV (Verordnung über die elektronische Übermittlung im Rahmen von Zivil- und Strafprozessen sowie von Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren) eine bindende Regelung zu entnehmen sei, welche zur elektornischen Kommunikation verpflichte. Zwar sehe die VeÜ-ZSSV die Möglichkeit zu einer solchen vor, diese basiere jedoch auf Freiwilligkeit, was sich bereits aus dem Wortlaut von «kann» bzw. «können» ergebe (vgl. Art. 9 Abs. 2 und 3). Es sei nicht nachvollziehbar und daher sachlich unbegründet, weshalb lediglich die Verfahrensbeteiligten jederzeit ihre Zustimmung widerrufen können sollen. Daraus sei aber keineswegs eine eigentliche Verpflichtung der angesprochenen Behörde ableitbar. Dies hätte nämlich zur Konsequenz, dass die Behörden damit einer unwiderruflichen Bindung unterworfen wären. Zugleich läge eine potenzielle Unvereinbarkeit mit der Beschleunigungs-, der Offizial-, sowie der Untersuchungsmaxime vor, wenn die entsprechende Software bzw. Zustellungsplattform ausfällt oder fehlerhaft ist. Infolge dessen könnte auf keine alternative Mitteilungsform zurückgegriffen werden und das gesamte Verfahren wäre blockiert. Zudem gebühre der StPO sowie der ZPO als formellen Gesetze Vorrang gegenüber der VeÜ-ZZSV. Letzteren sei lediglich zu entnehmen, dass eine fragliche Kommunikation auf elektronischem Weg erfolgen könne; aus der VeÜ-ZZSV (insbesondere Art. 9) einen erzwingbaren Anspruch abzuleiten, sei jedoch «schlichtweg gesetzeswidrig». Zu demselben Schluss führe die teleologische sowie historische Auslegung der StPO sowie der ZPO.
Insgesamt ist für die Anwaltskammer erstellt, dass X während einer Zeitdauer von rund drei Monaten nicht erreichbar gewesen ist. Angesichts der Tatsache, dass dieser vom Kreisgericht Z eine noch ausstehende Beweisverfügung erwartete und dort mehrere Verfahren hängig waren, liege darin ein Verstoss gegen Treu und Glauben. Als nicht glaubhaft qualifiziert die Anwaltskammer darüber hinaus die Aussage von X, dass sich aufgrund eines Softwarefehlers zwei Nachrichten auf dem Telefonbeantworter gelöscht haben sollen. Eine gewisse Nachlässigkeit seitens des X hatte sich bereits in vorausgehenden Verfahren abgezeichnet, als er vom Untersuchungsamt nachweislich nicht erreichbar gewesen ist. Diesen Vorwurf hielt X entgegen, dass er aufgrund eines Einbruchs seine Ferienabwesenheit nicht mehr gegen aussen zu kommunizieren pflege. Die Anwaltskammer gelangt zum Schluss, dass X mehrfach seine Sorgfaltspflichten verletzt hat und auferlegt ihm eine Busse über CHF 1'000.
Fazit
Auf den ersten Blick scheint es nicht gänzlich abwegig und zumindest retrospektiv betrachtet geradezu nachvollziehbar, dass X seinen Anspruch auf Art. 9 Abs. 3 VeÜ-ZZSV stützt. Der vermeintlich irreführende Wortlaut des besagten Artikels darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, was die Pflichten eines Anwalts sind: Er muss seinen Beruf sorgfältig und gewissenhaft ausüben. Und genau das hat X vorliegend nicht getan. Umso mehr meint können hier tatsächlich nur «können», und eben gerade nicht «müssen».
Autorin: Julia Wismer Der Beitrag gibt ausschliesslich die persönliche Auffassung der Autorin wieder.